Einleitung
Der Rückzug der USA aus Afghanistan, der Konflikt in der Ukraine und seine internationalen Folgen sowie die wachsende Zahl von Ländern des Südens, die den Beitritt zu den BRICS-Staaten beantragen, deuten auf den Übergang vom unipolaren System, das aus dem Ende des Kalten Krieges hervorgegangen ist, zu einer multipolaren Welt hin. Die BRICS verkörpern einen Pol der Opposition gegen die westliche Hegemonie, der über zahlreiche Stärken verfügt, aber auch mit einer Reihe von Grenzen, Schwächen und inneren Widersprüchen konfrontiert ist, die mit ihrer Geschichte, ihren Interessen, ihren Visionen und dem Großmachtstatus von Russland, Indien und China zusammenhängen.
Das Ende des unipolaren Systems
Die Errichtung einer multipolaren Weltordnung und die damit einhergehenden Schocks – oder aus einer anderen Perspektive der Niedergang der westlichen Ordnung – wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten von zahlreichen Autoren angekündigt. Aymeric Chauprade hatte beispielsweise den Aufstieg der BRICS-Staaten und ihre wachsende Rolle im internationalen System sowie den Widerstand der Vereinigten Staaten von Amerika gegen die Bildung eines kontinentaleuropäischen oder gar eurasischen Blocks (die von Henri de Grossouvre verteidigte Achse Paris-Berlin-Moskau) durch die NATO analysiert.[1] Letzteres war übrigens eines der Schlüsselelemente der Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika, die in dem berühmten Buch von Zbigniew Brzeziński[2] dargelegt und seit dem Ende des Kalten Krieges angewandt wurde.
Die Entstehung eines europäisch-russischen politischen und energiepolitischen Kontinentalblocks[3] war ein bewusstes Ziel europäischer Länder wie Frankreich und Deutschland, die darauf bedacht waren, ein Gegengewicht zur Macht ihres Verbündeten USA, aber auch zur aufstrebenden Macht Chinas zu schaffen. Dieser Wunsch wurde in verschiedenen Vereinbarungen über die Sicherheit in Europa zum Ausdruck gebracht, die unter anderem vorsahen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Russland hätte sich gewünscht, dass die OSZE die wichtigste regionale Organisation für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa wird, doch die Ausweitung der NATO auf Mittel- und Osteuropa veranlasste Moskau 2002, dem NATO-Russland-Rat beizutreten. Die US-amerikanische Invasion im Irak 2003 führte dann zu einer Spaltung der europäischen Länder: Während Frankreich, Deutschland und Russland gegen den Ausbruch des Konflikts waren, schlossen sich Großbritannien, Spanien, Italien sowie zahlreiche mittel- und osteuropäische Länder, die erst vor kurzem der NATO beigetreten waren – wie Polen, Rumänien oder Bulgarien –, der von Washington angeführten Koalition an.
Die Hybris der USA führte nicht nur zu Militäroperationen mit katastrophalen Folgen in Afghanistan oder im Irak im Namen des „Kriegs gegen den Terror“, sondern auch zu einer Ausweitung ihres und der NATO Einflusses, deren Auswirkungen Europa destabilisierten, einen gefährlichen Wettbewerb zwischen Washington und Moskau neu entfachten und eingefrorene Konflikte (wie zwischen Georgien auf der einen und Südossetien und Abchasien auf der anderen Seite) wieder aufleben ließen oder neue schufen (wie in der Ukraine).
Nach den Jugoslawienkriegen, deren letzte Episoden die Kriege im Kosovo und – weniger bekannt – in Mazedonien waren, weiteten die USA ihren Einfluss durch die Expansion der NATO und die „Farben-Revolutionen“ in Georgien, der Ukraine und Kirgisien aus. Die Krise in den Beziehungen zu Russland verschärfte sich in den 2000er Jahren auch durch Washingtons Bestreben, einen Raketenabwehrschild in Polen zu stationieren. Die zunehmende Konvergenz zwischen den strategischen Interessen der USA und denen der EU hat die Kluft zu Russland im Laufe der Jahre vergrößert. Die Orangene Revolution hatte politische Brüche in der ukrainischen Gesellschaft und die Notwendigkeit eines politischen Gleichgewichts innerhalb des Landes sowie auf dem europäischen Kontinent aufgezeigt. Diese Lektion wurde ebenso wenig gelernt wie die von Jugoslawien: Bei den Ereignissen auf dem Maidan und der darauffolgenden schweren politischen Krise in der Ukraine versagte die EU bei der Durchsetzung des Abkommens über den politischen Übergang, und die unter US-Kontrolle eingesetzte neue Regierung beförderte sowohl eine inner-ukrainische Polarisierung als auch eine Reaktion Russlands, die zu einem bewaffneten Konflikt im Donbass führte. Auch der mangelnde Wille der „westlichen Partner“, die Einhaltung der Abkommen von Minsk I und II durchzusetzen, führte nicht zu einer Lösung des Konflikts, der sich nach der russischen Invasion in der Ukraine verschärfte. Dieser Krieg ist nicht nur eine Katastrophe für das ukrainische und das russische Volk, sondern auch eine Bedrohung für andere europäische Nachbarvölker, sollte sich der Konflikt ausweiten und eskalieren, wobei die nukleare Option eine der möglichen Schlussfolgerungen ist.
BRICS und Multipolarität: Perspektiven und Grenzen
Der Rückzug der USA aus Afghanistan, gefolgt von der Machtübernahme der Taliban im Spätsommer 2021, sowie die internationalen Auswirkungen des Konflikts in der Ukraine deuten auf einen Rückgang der Macht der USA und den Übergang von einem unipolaren zu einem multipolaren System hin. Es wurde immer sichtbarer, dass die „internationale Gemeinschaft“ in Wirklichkeit auf die westlichen Mächte beschränkt war und der „Rest der Welt“ sich von ihr entfernte, wie die steigende Zahl der Anträge auf Mitgliedschaft in den BRICS-Staaten belegt. Die BRICS-Staaten haben sich in den letzten 20 Jahren durch ihre Wachstumsraten und durch die Fähigkeit ausgezeichnet, eine alternative Vision des internationalen Systems zu entwickeln. Diese Vision, die dem westlichen Einfluss auf das internationale System zunehmend kritisch gegenübersteht, konnte in den geopolitischen Machtverhältnissen ein gewisses Gewicht erlangen und durch die Rolle, die Russland oder China als Gegner des westlichen Modells spielen, für die Länder des Südens an Attraktivität gewinnen.
Die BRICS zeigen eine Fähigkeit, die westliche Hegemonie über das internationale System in Frage zu stellen, und dieses Potenzial kann wachsen, insbesondere durch den weiteren Beitritt zahlreicher Länder des Südens.
Die BRICS zeigen jedoch auch Grenzen auf, die durch die unterschiedlichen Stärken, Interessen und Visionen von der internationalen Ordnung, die zwischen ihren vier ursprünglichen Mitgliedern bestehen, bedingt sind. Darüber hinaus bestehen zwischen einigen der ursprünglichen Mitglieder wie China und Indien, aber auch zwischen potenziellen zukünftigen Mitgliedern wie Algerien und Marokko weiterhin ernsthafte diplomatische Probleme oder Konflikte. Russland und China befinden sich in einer geopolitischen Konfrontation mit den USA, während Indien unter anderem im Rahmen des „Quad“ (Quadrilateral Security Dialogue[4]), an der auch Australien und Japan beteiligt sind, im Fokus der USA steht.
Die BRICS-Staaten und die vielen Länder, die sie unterstützen, können bei der Schaffung einer multipolaren Welt und eines effektiveren Multilateralismus durch eine Reform des UN-Sicherheitsrats eine Rolle spielen, aber das ist nur ein Szenario unter vielen. Die wachsende Rolle der BRICS-Staaten und die Weigerung der westlichen Länder, diese neue geopolitische Situation zu akzeptieren, könnte auch die Logik der Blockkonfrontation fortführen. Aufgrund des Gewichts einiger Mitglieder wie Indien, Russland und China sowie ihrer Eigeninteressen oder unterschiedlichen Visionen könnten die BRICS-Staaten langfristig an Zusammenhalt verlieren und zu einer Arena für Großmachtkonflikte werden.
Der Imperialismus war westlich, aber in Zukunft könnte er chinesisch oder anders sein. Während des Kalten Krieges unterstützte die Volksrepublik China antikoloniale und Unabhängigkeitsbewegungen in Asien oder Afrika und verurteilte die westlichen Einmischungen in den Ländern des Südens. China vertritt weiterhin offiziell eine Vision, die Kooperation und Souveränität in den Vordergrund stellt – insbesondere in seiner Handels- und Wirtschaftsentwicklungspolitik mit Afrika. In der Vergangenheit hat China westliche Staatsstreiche oder Interventionen auf dem afrikanischen Kontinent kritisiert, doch angesichts der Bedeutung seiner Investitionen, Märkte und strategischen Ressourcen in Afrika könnte Peking in Zukunft die gleichen Methoden anwenden, um seine Interessen vor Ort zu verteidigen. Nach der Abhängigkeit, die durch Schulden und ungleiche Bedingungen für den Wirtschafts- oder Handelsaustausch zwischen Nord und Süd geschaffen wurde, hat Pekings Politik der wirtschaftlichen Entwicklung auch eine neue Abhängigkeit und einen Souveränitätsverlust für einige Entwicklungsländer (z.B. Kamerun, Kongo, Bangladesch) geschaffen. Auch hat China die Globalisierung und den Kapitalismus nicht in Frage gestellt[5], aber die „Fabrik der Welt“ ist zu ihrem wichtigsten Motor geworden, und im Falle einer schweren Krise in China oder eines chinesisch-amerikanischen Konflikts wären die Folgen für die Weltwirtschaft verheerend.
Schlussfolgerung: Überlegungen zu Souveränität und Neutralität
In einer Welt, die eine Arena zwischen Großmächten war und ist, werden schwächere, kleinere oder ethnolinguistisch oder religiös fragmentierte Länder oft Opfer der Ambitionen ihrer mächtigeren Nachbarn oder von Konflikten zwischen mächtigeren Nachbarn (indem sie aufgeteilt und annektiert werden oder zum Schauplatz von Stellvertreterkriegen oder „eingefrorenen Konflikten“ werden). Sich zwischen großen Blöcken anzupassen und zu überleben ist nicht einfach, aber kleine Länder oder nur solche, die wirklich unabhängig bleiben wollen, können den Weg der Souveränität durch Neutralität wählen. Sehr oft wurde die Neutralität aufgezwungen (Belgien, Schweiz, Finnland, Österreich) und in Europa hat die Neutralität nach dem Ukraine-Konflikt an Boden verloren (Schweiz, NATO-Beitritt Finnlands und potenziell Schwedens nach Ratifizierung durch alle NATO-Mitglieder), aber dieses Konzept bleibt im aktuellen Kontext relevant. Die Neutralität ermöglicht es einem Land, die Logik der Blockkonfrontation abzulehnen (wie bei der Bewegung der Blockfreien Staaten[6]), frei zu bleiben, seine eigenen Interessen und eine alternative oder spezifische Vision der internationalen Beziehungen zu verteidigen. Diese Elemente ermöglichen es einem neutralen Land, ein glaubwürdiger Ort für Friedensverhandlungen zu sein, an dem Konflikte beigelegt werden können. Diese Rolle spielt die Schweiz seit dem Heiligen Nikolaus von Flüe im 15. Jahrhundert[7]. Durch seine geografische Lage spielt ein neutrales Land die Rolle einer Pufferzone, die es ermöglicht, einen Konflikt zwischen Blöcken zu verhindern und einen Abstand zwischen den Atomraketen konkurrierender Blöcke zu wahren (was die Vorwarnzeit erhöht). Schließlich ermöglicht die Neutralität einem Land, Frieden und Wohlstand zu genießen, indem es eine Brücke zwischen seinen großen Nachbarn bildet (was der Fall der Schweiz war und auch der Fall der Ukraine sein sollte).
- Aymeric Chauprade, Chronique du choc des civilisations, Éditions Chronique, 2011; Henri de Grossouvre, Paris Berlin-Moskau: La voie de l’indépendance et de la paix, L’Âge d’Homme, 2002.
- Zbigniew Brzezinski: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft, 1999 (The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives,1997)
- Wie im Fall der Europäischen Energiecharta von 1994, auf die 1998 der Vertrag über die Energiecharta folgte. Letzterer wurde im September 2021 vom Gerichtshof der Europäischen Union für unvereinbar mit dem EU-Recht erklärt. Spanien, Frankreich, Polen und viele andere europäische Staaten haben angekündigt, 2022 aus dem Vertrag austreten zu wollen. Die Europäische Kommission kündigte im Februar 2023 an, dass ein Ausstieg aller EU-Mitgliedstaaten aus dem Vertrag unvermeidlich sei. Siehe „LEAK: Exit from Energy Charter Treaty ‘unavoidable’, EU Commission says“, Euractiv, 08/02/2023: https://www.euractiv.com/section/energy/news/exit-from-energy-charter-treaty-unavoidable-eu-commission-says/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Quadrilateral_Security_Dialogue
- Die Volksrepublik China entwickelte ihre „sozialistische Marktwirtschaft“ nach den von Deng Xiaoping 1978 eingeleiteten Reformen und dank westlicher, insbesondere US-amerikanischer Investitionen. In den 1990er Jahren unterstützte die Regierung von Bill Clinton die wirtschaftliche Entwicklung Chinas und den Beitritt zur WTO , der 2001 erfolgte. Der in China eingeführte „Sozialkredit“ wurde von einer chinesischen Delegation inspiriert, die die Vereinigten Staaten von Amerika besucht hatte und dort ein System zur Information über den finanziellen Status der Kunden von Banken und Kreditinstituten entdeckt hatte. Die chinesischen Behörden erkannten schnell das Potenzial eines solchen Systems, um das soziale, wirtschaftliche und politische Verhalten der Bürger zu kontrollieren und zu regulieren.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Bewegung_der_Blockfreien_Staaten
- https://de.wikipedia.org/wiki/Niklaus_von_Fl%C3%BCe